So. 27. Mai 2012
Auch in diesem Land wollten wir uns nur auf kleinen
Landstraßen bewegen und uns darüber an den Mittelpunkt Europas in Rakhiv heran pirschen. Dazu war ein Rückwärtsschlenker über Kolomyla, Richtung Süden erforderlich, der uns dann in einem Bogen
entlang der rumänischen Grenze durch die Waldkarpaten zu diesem Punkt führen sollte.
In Kolomyla lag dann plötzlich unsere erste Holzkirche mit kobaltblauen Zwiebelkuppeln am Weg, die wir natürlich näher beäugen wollten. An einem Sonntag quoll sie regelrecht über, wie es früher
einmal die katholischen Kirchen auch kannten. Die Gläubigen standen dichtgedrängt selbst vor den Kirchentüren und lauschten den Lautsprecher-Worten ihres Popen. Da die Türen durch diese
Gläubigentraube gut abgeschirmt wurden, war es nicht möglich, einen Blick ins Innere zu tun, das sich wahrscheinlich nicht von den bisher gesehenen Kirchen unterscheiden würde. Aber die Balken,
aus denen das Gotteshaus bestand, wie auch die Konstruktion, die teilweise außen ablesbar war, machten deutlich, wie fest dieser Glaube hier verankert war.
Wir beendeten dann unseren eigenen Gottesdienst abrupt, preschten wieder los und überholten am heiligen Sonntag einen LKW, der mal für MÖBEL KRAFT in Bad Segeberg gelaufen, und nun mit
ukrainischem Nummernschild unterwegs war. Was der wohl alles transportiert hatte, seitdem er in Norddeutschland ausgemustert wurde?
Nach dem Überholvorgang kamen wir allerdings nicht mehr weit. Denn Torsten, der wie meistens, mit einer Art ICE Zuschlag unterwegs war, wurde im nächsten Kreisverkehr von einem Polizisten heftig
winkend aufgefordert, rechts ran zu fahren. Sein „Scheiße, jetz hamse mich“ wurde dann aber durch das Lachen und Getue der Beamten ins Gegenteil verwandelt, denn anscheinend hatten sie nichts von
Dollys Geschwindigkeitsrausch bemerkt und wollten sich diesen seltsamen Vogel einfach nur aus der Nähe ansehen. Motorhaube und Kofferraum öffnen, Staunen und Lachen und uns gute Weiterfahrt
wünschen, war alles.
In Rakhiv angekommen, tauchte die Frage auf, wo sich der Mittelpunkt Europas denn nun befinden könnt. Sicher irgendwo im Ort gut versteckt, aber hoffentlich mit den entsprechenden
Hinweisschildern versehen. Und nachdem wir Dolly auf einem kleinen, aber lebhaften Platz an der Theiß oder auch Tuca geparkt hatten, machten wir uns auf die Doppelsuche nach diesem Punkt und nach
einem Essenslokal, nach wie vor mit unserem Jab auf Einheimisches.
Auf der Brückeüber die Theiß verkauften ältere Frauen zwar weiße Cola und
Fanta in Form einheimischer Milch in den dazu gehörenden 1,5 Liter PET Flaschen und ein paar wenige andere Produkte, nur ein Lokal, wie wir es suchten, fanden wir nirgends, wie schon so oft. Junk
Food Läden hingegen gleich mehrere. Fündig wurden wir erst, als wir 'ne ganze Ecke gelaufen waren und den Bahnhof passiert hatten. Dort entdeckten wir dann ein Restaurant, in das wir uns fast
nicht hinein getraut hätten, zu fein sah der Schuppen aus. Dem äußeren und inneren Eindruck nach war er brandneu, und selbstverständlich passte auch die Bedienung in ihrem Outfit dazu. Auch hier
so hübsch und irgendwie besonders anzusehen, so dass man kaum den Blick abwenden mochte. Ich frage mich noch heute, was machen oder haben die Frauen dieser Länder, dass sie sich so sehr von
unseren, doch ebenfalls gut aussehenden Frauen unterscheiden?
Diese bezaubernde Restaurant-Fee versuchte uns in ihrem ukrainischen Russisch zu erklären, wie und wo wir den gesuchten Mittelpunkt finden könnten. Trotz Skizze auf einer Serviette wollte das
sprachlich nicht so recht gelingen. Das gelang erst, als wir wieder auf dem Platz bei unserer von Groß & Klein umringten Dolly angelangt waren. Unter den Goßen gab es auch einige Taxifahrer,
mit deren Erklärung auch die Skizze plötzlich einen Sinn ergab, die wir ja im Restaurant noch nicht so recht deuten konnten.
Danach waren wir schon kurz nach Erreichen des Ortes an der Straße vorbeigefahren, die zu diesem ominösen Europa Mittelpunkt führt, der sich nicht im Ort, sondern einige Kilometer außerhalb
Rakhivs im Flusstal der Theiß in der Nähe einer alten Eisenbahnbrücke befindet. Interessant, weil er nicht in der EU liegt und ominös, weil es ~ je nach Berechnungsart und nach Anschauung ~
mehrere Europa Mittelpunkte gibt.
Den ersten bestimmte man bereits 1775 in dem in Polen gelegenen Städtchen Suchowola. Der in Rakhiv wurde 1887 im Zusammenhang mit der Eisenbahn eingemessen, die damals gebaut wurde. Er wurde
sogar in der damaligen K&K Zeit von österreichischen Wissenschaftlern bestätigt. Ein anderer wurde 2 Jahre später vom nationalen Geographie Institut Frankreichs in Litauen in der Nähe von
Vilnius errechnet. Und selbst die Bayern ~ wie könnte es auch anders sein ~ gönnten sich vor gar nicht langer Zeit diesen begehrten Mittelpunkt in Hildweinsreuth bei Flossenbürg in der nördlichen
Oberpfalz. Weiß der Geier, wo das liegt. Womit allerdings noch nicht Schluss ist, denn es gibt noch ein paar weitere. Unter anderem den, der seit der zweiten EU-Osterweiterung als Mittelpunkt
gelten soll. Demnach befindet er sich nun im hessischen Gelnhausen. Dass es mehrere dieser Punkte gibt, kann doch nur ~ laienhaft vermutet ~ mit dem Kippeln oder Pendeln der Erdachse
zusammenhängen. Oder? :-))
Aber alle haben sie ihre Gedenktafel, ihren Messpunkt und sonstiges, was diesen Punkt als solchen definiert. In Rakhiv hat man an dieser Stelle eine kleine Metallkugel einzementiert und direkt
dahinter ein sogen. Geodätisches Denkmal aus Beton errichtet, auf der folgendes zu lesen ist (Lateiner an die Front):
Locus
Perennis Dilicentissime cum libella librationis quae est in
Austria et Hungaria confectacum mensura gradum meridionalium
et paralleloumierum Europeum. MD CCC LXXXVII.
Dass dieser Punkt, wie die anderen sicher auch,
touristisch entsprechend genutzt wird, versteht sich von selbst. Verkaufsbuden und Touristen ergänzten sich bestens. Und trotz des Trubels kam ich mir vor wie in Jules Vernes Reise zum
Mittelpunkt der Erde ~ es hatte etwas Erhabenes, zumal ich zu dem Zeitpunkt noch nichts von all den anderen Europa Mittelpunkten wusste. Aber da hat mich Wikipedia nicht dumm sterben lassen
wollen.
Wie Steffi uns dann mitteilte, konnten wir dieser Straße durch die malerischen Waldkarpaten auch weiterhin folgen, und bis Khust nach Westen fahren, immer entlang der ukrainisch-rumänischen
Grenze. Dann ging es in einem Bogen nach Norden über Berezovo und Mizhhir'ya usw. um unser Ziel, das alte Lemberg ~ heute mit dem Zungenbrecher L'viv benannt ~ zu erreichen.
Ein Schild warnte vor der schlechten Wegstrecke, was uns nicht weiter schreckte. Glaubten wir doch, alle imposanten Pisten und ihre Schlaglöcher schon gesehen und befahren zu haben. Aber diese
Warnung hatte es in sich, denn die Straße, die anfangs noch relativ gut befahrbar war, wurde mehr und mehr zu einer Ansammlung von Schlaglöchern, die ein Meteoritenhagel in die Asphaltdecke
geschossen haben musste. Sie warteten nur noch darauf, dass sie sich aus ihrer Vielzahl zu einem einzigen durchgehenden Mega-Schlagloch vereinigen konnten. Welches dann aber immer noch links und
rechts von traumhafter Natur begleitet wird.
Diese Straße, die ab Kilometer X auch einem Geländewagen nicht mehr ganz leicht gefallen wäre, sollte Dolly's und unser Schicksal werden und dafür sorgen, dass wir Lemberg im ersten Anlauf noch
nicht erreichten. Denn nach einigen fürchterlichen Schlägen, die diese Schlaglöcher Dolly verpassten, konnte Torsten die Lenkung nur noch mit aller Kraft betätigen. Und als wir ausstiegen, um
irgendwo im Nirgendwo der Karpaten vielleicht etwas erkennen oder richten zu können ~ z.B. der Lenkung etwas Öl zu gönnen ~ sahen wir die Bescherung.
Die Motorhaube hatte sich soweit verzogen, dass sich das Gestänge der Scheinwerfer 5 oder 6 Zentimeter vor der dazugehörigen Ausbuchtung befand und beide Ränder der Haube verzierten kleine Sicken
in einem aparten Muster ~ wie es bei einer Stauchung nun mal der Fall ist. Irgendwie erinnerte mich das Aussehen an die Stickereien meiner Oma, die am Rand mit einem Zick-Zack Muster eingefasst
waren. Außerdem hatte sich ein Spalt zwischen Motorhaube und den seitlichen Karosserieteilen gebildet. All das sah gar nicht gut aus, deutete es doch darauf hin, dass sich Dollys Rückgrat, das
Chassis verzogen haben musste.
Mit gedrückter Stimmungquälten wir Dolly und uns weiter bis zum nächsten Ort,
der sinnigerweise auf den hübschen Namen Dolyna hörte und steuerten gleich das erste Hotel am Ortsrand an, das Privathotel Kieas Oleg. Ein, wie ein verwunschenes Schlösschen aussehendes Gebäude
mit jugendstiligen Anleihen.
Für 380 Griwna, umgerechnet ca. 37 Euro, bekamen wir ein ansprechendes Doppel- plus Einzelzimmer mit Bad und WC. Wobei Torsten dieses Mal der Einzelzimmer
Kandidatwar.
Das Privathotel verfügte selbstverständlich über ein Restaurant, auch wenn der Service nicht immer dem Anspruch entsprach, den das Hotel vermitteln wollte. Frühstück gab es erst ab 9 Uhr, das
allerdings an dem Tag ausfiel, an dem wir nach Lemberg fuhren. Die Mannschaft hatte am Abend vorher so heftig gefeiert, dass sooo früh noch niemand wieder bereit war, sich für hungrige Mägen zu
interessieren. Und überall im Frühstücksraum lagen und standen noch die geleerten Flaschen herum, als wenn sie mit ihnen gekegelt hätten.
Lustig war auch, dass die Bedienung von einem Mal zum anderen wieder vergaß, dass es bestimmte einheimische Dinge auf der Karte nicht gab. Da sie aufgeführt waren, hätten wir sie natürlich als
Fans jeglicher Einheimischen-Küche gerne gegessen. Aber unser Test brachte jedes Mal das gleiche Ergebnis, sie stiefelte in die Küche und kam mit negativem Bescheid zurück. Na ja, unsere Hoffnung
war halt, dass der Koch diese Dinge inzwischen besorgt haben könnte.
Trotz Verständigungsschwierigkeiten konnte uns der Rezeptionist aber vermitteln, dass schräg gegenüber in einem Hinterhof eine KFZ Werkstatt existierte, die auch in der Ukraine Sonntags
geschlossen hatte, aber am anderen Morgen zum Wochenanfang um 8 Uhr wieder präsent sein würde.
Wir hatten uns überlegt und entschlossen, dass wir diese Zwangspause nutzen wollten ~ je nachdem wie lange sie dauern würde ~ eine der beiden Optionen des Lonely Planets zu nutzen, mit dem Zug
oder dem Bus nach Lemberg zu fahren.