Etappe 8 ~ von Di. 04.09.bis Do. 06.09.2007
Wie fast jedes Mal, wenn es wieder losgehen sollte, war ich nervös, wie ein junges Pferd vorm ersten Start. Ob sich das wohl
noch mal legen würde auf meiner Reise? Und wie jedes Mal fiel es ab von mir, dieses Kribbeln, wenn ich im Bus, Zug, Flugzeug oder sonst wo saß, wo mir bewusst wurde, jetzt rollen die Räder, bzw.
der Steigflug beginnt.
Als ich am Tag zuvor mein Ticket noch gemeinsam mit Amedeo löste, bekam ich die Nr. 1 als Platznummer und war ganz gespannt, wo sich dieser Platz im Bus befinden würde. Ganz vorne neben oder beim
Fahrer vermutete ich. Dem war auch in etwa so, nur eine Etage höher, denn es war ein Doppeldecker Bus. Und so saß ich dann ~ wie bei der ARD, ganz vorne in der ersten Reihe ~ direkt vor der
Panoramascheibe und hatte einen prima Ausblick auf alles, was auf mich zu kam.
Zu einem großen Teil war es eine vierspurige autobahnähnliche Straße, mit begrüntem Mittel- und Standstreifen, die auch ihre A und E Nummer hatte. Allerdings war sie mit unseren Autobahnen nur bedingt vergleichbar, denn sie war ähnlich belebt, wie bei uns in den 50er Jahren. Außerdem frei von Baustellen. Und, sie wurde immer mal wieder von anderen Straßen und auch von einem Zebrastreifen gekreuzt, auf dem sich mitten drauf gerade eine Frau befand. Alles ohne Ampel, versteht sich. Die wenigen Fahrer passten halt auf und alles lief wie geschmiert.
Einmal entdeckte ich sogar eine private Feldwegauffahrt direkt von einem kleinen Gehöft auf den Standstreifen, der damit
zugleich zur Beschleunigungsspur aufgewertet wurde. Diese Auffahrt sah ziemlich gut benutzt aus, denn es war kein Gras darauf zu sehen. Das lob' ich mir. So wird eine Autobahn vorm Haus
erträglich. Und neben dem und aller Leere gab es dann auch noch einen Polizeikontrollpunkt mit Laserkanone. Gerade hatten sie ein armes Schwein raus gewunken und der nächste war schon im Visier.
Taler, bzw. Litas braucht nun mal auch dieser Staat. Die fröhliche Raubritterrunde grüßt aus dem Baltikum den Rest der EU.
Und dann trudelten wir bei einsetzendem leichtem Regen auf dem „Autobusa stotis“ dieser Stadt mit dem
zungenbrecherischen Namen ein. Da sich über dem Anfangs S in der litauischen Schreibweise noch so ein Häckchen befindet, wird dieses S wie Sch in Schirm oder Scheiße ausgesprochen. Sorry. Dadurch
wurde das Ganze aber nicht weniger anspruchsvoll, was die Aussprache betrifft. Die Einheimischen lachten sich jedenfalls immer 'nen Ast, wenn unsereins den Empfehlungen im Reiseführer folgte und
perfekt Auswärts sprach. So erlebt, als ich in der „Tourismo Informatio“ mit meinem Notebook saß und
hörte, wie ein Tourist sich auf Litauisch bedankte. Aciu heißt das Wort und auf dem c befindet sich auch wieder dieser Haken, der es in diesem Fall zum tsch macht. Die junge Frau eilte jedenfalls
gleich nach hinten zu den Kollegen, als der Tourist draußen war und machte ihnen die Touristenaussprache vor. Gekicher auf der ganzen Linie. Mich, hinter meinem Notebook, hatten sie komplett
vergessen. Aber lustig fand ich's auch.
Damit habe ich aber jetzt vorgegriffen, denn das passierte ja erst am zweiten Tag. Im Hier & Heute meiner Ankunft musste ich ja nun erst einmal beweisen, dass ich Amedeos Lektionen begriffen
hatte und das Gelernte auch einsetzen konnte. Und schon war ~ genau wie im richtigen Leben ~ alles anders, als zuvor in Vilnius. Hier gab es nämlich an der Busstation weit und breit keine
Touristeninformation, bei der ich irgendetwas hätte fragen / klären können. Aber Gott sei Dank hatte ich ja meinen Reise-know-how Reiseführer, in dem eine Jugendherberge mit Adresse aufgeführt
war. Jetzt musste ich nur noch jemanden finden, der mir sagen konnte, wo das ist, und wie ich da hinkomme. Einen Stadtplan gab's ja mangels Touristen Anlaufstelle auch noch
nicht.
Also, erst einmal voller Elan rein in den Kassenraum und dort nachgefragt.
Eher gezeigt, denn ich hatte mir sinnigerweise den Straßennamen korrekt mit Häckchen usw. aufgeschrieben und zusätzlich die praktische Frage „Wo ist die ...“ notiert. Damit erfuhr ich dann ~ soweit ich es verstehend raten konnte, dass
ich nur die Straße entlang gehen müsse, bis zu einer großen weißen Kirche. Und mich dann irgendwie rechts halten solle.
Hier im Land
sind übrigens alle Kirchen groß. Unter dem wurde hier keine gebaut. Wie die das bloß finanziell und so geschafft haben? Kleine Kirchlein findet man nur sehr selten. Und dann übersieht man sie
glatt, weil einem die Superlativen inzwischen so selbstverständlich erscheinen. Seltsam, war aber so. Jedenfalls bei mir.
Also dackelte ich erst mal los, bis mir ein Stück weiter einfiel, dass es gegenüber des Busbahnhofs eine Bushaltestelle für die lokalen Busse gab, die alle die Straße langknatterten, die ich
laufen sollte und mich überholten. Kehrt marsch, die Straßenseite gewechselt und bei den vielen Wartenden das alte Englisch- oder Deutsch-Spielchen gespielt. Keiner wollte mit mir spielen und
auch mit meinem Zettel kam niemand klar. Nicht weil sie nicht lesen konnten, sondern weil sie die Straße nicht kannten.
Das kann ja
heiter werden und mit dem Gedanken stürzte ich mich mit meinem Zettel auf den Busfahrer des gerade eintreffenden Busses. Aber auch er konnte
diese Straße nicht auf Anhieb einordnen. Stattdessen malte er mir freundlich auf meinen Zettel die Nummer der Linie 21, die
ebenfalls an dieser großen weißen Kirche vorbeifahren würde.
All das hätte mich furchtbar misstrauisch werden lassen sollen, was es aber nicht tat. Und so erklomm ich dann besagte Linie
und landete auch tatsächlich bei der Kirche. Damit war mein Ziel aber noch nicht erreicht, und das begonnene Sprachen-Spiel wollte auch noch kein Ende nehmen. Ich konnte fragen wen ich wollte,
meinen Zettel in bester Schönschrift vorzeigen, niemand wusste, wo und wie ich diese beschissene Straße finden könnte.
Also latschte
ich vertrauensvoll einfach und erst einmal los und drehte immer wieder um, weil es den vage verstandenen Beschreibungen der Kassenfrauen nicht entsprach. Und mein Gepäck wurde schwerer und
schwerer. Waren es erst nur 20 Kilo, wurden dann 30 daraus, später 40, 50 und irgendwann waren es dann 80 gefühlte Kilo und immer noch keine Straße, geschweige denn Jugendherberge in Sicht. Und
dann geschah das Wunder von Siauliai. Ein Pärchen kam auf mich zu, und ich wedelte erneut mit meinem Zettel. Und der junge Mann kannte doch glatt diese vermaledeite Straße, ließ seine Frau /
Freundin / Schwester stehen ~ vielleicht hat er ihr ja gesagt, sie solle einen Moment warten ~ und ging mit mir rund 300 Meter den Weg zurück, den er gerade gekommen war. Bis zu einem
Straßenschild, auf dem dieser für alle, außer ihm unbekannte Name stand.
Mensch, war ich froh. Ich hätte ihn knuddlen
können und konnte doch nur das Einheimische belustigende Aicu rausbringen, strahlte dabei über alle vier Backen und fühlte mich meinem Ziel nun endlich nahe. Nur wie nahe? Denn als nächstes
musste ich feststellen, dass ich hier beim ersten Haus der Straße stand und noch bis zur Nr. 36 musste. Und das daaaauuuuuerte, und die Gegend wurde immer einsamer und meine 80 Kilo wollten
endlich meinen Schultern Tschüss sagen.
Aber noch war das weder den 80 Kilo, noch mir mir vergönnt. Denn als ich endlich diese lang ersehnte Hausnummer an einem
Gebäude entdeckte, das durchaus das Format einer Juhe hatte, gab es nirgendwo einen Hinweis, ein Schild oder etwas in der Art. Und die Hütte sah so vereinsamt aus, dass ich gewisse Konsequenzen
zu ahnen begann. Aber erst einmal bekam ich es an der Eingangstür mit einer älteren Frau zu tun, die nur einen einzigen, aber energischen englischen Satz drauf hatte:
„NO
BED“. Und
das noch, bevor ich sie nach einem fragen konnte. Und da nützte dann auch kein Lächeln, kein Bitten, kein gar nix. Allerdings
brachte dieser Satz mich fast um, den er bedeutete, dass ich den ganzen Weg zurück musste, um irgendwo ein Touristen Center, eine Bleibe oder was weiß ich zu
finden.
Latsch, latsch, stapf, stapf, ich wusste gar nicht, dass Gehen unter Belastung so schwer fallen kann. Aber ich schaffte den Weg zurück zur Kirche und sah da nun plötzlich etwas, was mir vorher
völlig entgangen war, weil ich mich auf der anderen Straßenseite befunden hatte und völlig auf rechts fixiert war, wie man es mir verklickert hatte. Was sich ja auch grundsätzlich als richtig und
dennoch als falsch erwiesen hatte. Ich sah ein quadratisches blaues Schild mit einem dicken fetten großen „I“ darauf, mit dem Hinweis: 300
m.
Die Rettung nahte nun im Sauseschritt, auch wenn mich dieser entzückende Hinweis zwar nicht mehr zu besagtem Sauseschritt
bewegen konnte, aber immerhin zum vorerst letzten Endspurt, dem der allerletzte dann noch folgen sollte. Aber vorher musste mir eine bezaubernd hilfsbereite junge Touristeninformationsfrau erst
ein anderes Hostel ganz in der Nähe benennen. Sie rief sicherheitshalber sogar dort an und fragte, ob denn noch ein Bett für mich frei wäre. In der Stadt gäbe es irgendeine Veranstaltung, die für
Bettenknappheit sorgte, meinte mein rettender Engel. Aber sie hatten. Wie ich dann bei meiner Ankunft erfuhr, sogar ein 2-Bettzimmer, das mir allein gehören sollte. Ich war hellauf begeistert,
denn das war genau das, was mir zu meinem Glück in diesem Moment und überhaupt noch fehlte.
Aber vorm Einchecken kam erst noch der nächste
Erkenntnishammer. Ich war vertrackterwesie bereits zweimal an diesem Youth Hostel vorbeigetrampelt, ohne auch nur das Geringste von seiner Existenz zu ahnen. Sie hatten es wirklich gut getarnt,
nämlich in einer Schule für technische Berufe, deren Name in dicken fetten Lettern aus 100 Meter Entfernung zu lesen war. Und ganz klein, im Schatten des Vordachs auf einem waagerechten
Fensterprofil befand sich das Wort, das mich so glücklich gemacht hätte, wenn ich es denn schon Gewichtsbelastungsklassen früher entdeckt hätte.
Aber es war, wie es ist, maulen half nicht weiter, erleichtert aber manchmal, wenn auch nur psychisch. Was zählte, war, dass
ich endlich, endlich am Ziel meiner Wünsche angelangt war und meine inzwischen mindestens auf 100 Kilo gewachsene Last von meinen wunden Schultern plumpsen lassen konnte. Welch eine Wohltat. Und
welch eine Wohltat, mein komplett nassgeschwitztes Hemd mit unter die Dusche nehmen zu können und das heiße Wasser auf seinem Weg in die Kanalisation den Schweiß und alles Belastende mitnehmen zu
lassen. Einfach wunnebar.
Und als ob ich noch nicht genug gelaufen wäre, machte ich mich anschließend
auf den Weg, den ich nach meiner Ankunft bisher immer wählte, den Umgebung-Erkundungsweg. Schließlich wollte ich doch wissen, wo ich gelandet war. Ich stattete sogar meinem Tourismo Engel einen
zweiten Besuch ab, um mich noch einmal zu bedanken und zu erzählen, dass ich alles gut überstanden hatte. Und um zu erfragen, wie es mit einem Internet Zugang aussähe, im Hostel gab es nämlich
keinen. Und auch das sah gut aus. Sie meinte, dass ich mich zu Ihnen in den Laden setzen könne oder auch ins benachbarte Café. Was ich dann auch am anderen Tag dankend annahm, um nachmittags
unbedingt bei der Aicu-Belustigung dabei sein zu können.
Für den nächsten Vormittag hatte ich mir ja den Hügel ~ Krazniu kalnas, mit Häckchen auf dem z ~ mit den inzwischen über 40.000 Kreuzen vorgenommen. Er liegt ca. 10 Kilometer außerhalb der Stadt
in Richtung Riga und erwartet von einem, selbst nach Erreichen der entsprechenden Bushaltestelle, noch einen Fußmarsch von 2 Kilometern, falls man sich als faule Socke nicht ein Taxi gegönnt hat.
Aber mein Motto heißt ja: „Mit Bahn & Bus“, das Taxi kam da erst einmal
nicht vor.
Und was soll ich sagen, ohne die äußerst hilfsbereiten, nicht Englisch
sprechenden Menschen hier, hätte ich diesen Hügel ebenfalls erst nach diversen Umwegen gefunden. Zuvor erzählte mir ein wirklich älterer Herr auf Französisch, welchen Bus ich zu nehmen hätte und
übergab mich dann auch noch dem Busfahrer, der mir später, mitsamt der wenigen Mitfahrenden klar machte, wo ich auszusteigen hatte, als ich nämlich mitten in der Prärie keinerlei Anstalten machte
auszusteigen. Der Bus hielt an einer Stelle, an der ich nie ausgestiegen wäre. Aber sie machten mir klar, dass ich hier nun gefälligst meine Beine in die Hand zu nehmen habe und zeigten auf eine
kleine schmale Straße, die tiefer in die besagte Prärie führte.
Tja, und die wanderte ich dann entlang, bis dann tatsächlich so etwas wie ein Hügel aus der ansonsten flachen Gegend
hervorwuchs. Und da waren sie, die vielen, vielen Kreuze, die dort im Laufe der Jahre zusammen gekommen waren und eine Art nationales Heiligtum darstellten. Hatte es doch nicht nur die Funktion
der Erinnerung an Menschen, die während der Deportation durch die Russen gestorben waren und anderer Toter, es stellte auch den Sieg über die verhassten russischen Unterdrücker dar, denen diese
Gedenkstätte ein Dorn im Auge war und sie mehrmals plattmachten. Aber kaum plattgemacht, wurden nächtens neue Kreuze aufgestellt und den Zerstörern auf diese Weise eine lange Nase
gezeigt.
Es war schon beachtlich, was sich da seit damals angesammelt hatte. Kreuze in
allen Ausführungen und Größen. Aus Holz, verschiedenen Metallen, bis hin zu Edelstahl, bemalte, unbemalte, schlichte, überfrachtete, winzige, kleine, mittlere, große, riesige. Alles war vertreten
und das Areal wuchs weiter. Denn vorgelagert gab es die typischen Händler, die an allen Wallfahrtsstätten dieser Welt zu finden sind. Und dort konnte man ein Kreuz kaufen, um es dazu zustellen.
Und der Papst war auch schon da, um es mit Marius Müller-Westernhagen zu sagen. Er hatte sich das größte Kreuz mit dickem Marmorsockel und seinem Namen gegönnt.
Über eine Stunde habe ich mich durch diese Ansammlung bewegt, sie auf mich wirken lassen und die vielen, vielen Details
bestaunt, die sich entdecken ließen. Und dann bin ich mit dem gleichen Busfahrer zurückgefahren, der mich schon hergebracht hatte. Nicht ohne mich vorher noch mit einem jungen Mädchen, dass sich
zu mir auf die Wartebank an der Bushaltestelle gesetzt hatte, endlich mal mit einem litauischen Bürger, sprich Bürgerin, auf Englisch zu unterhalten.
Ich hatte ihr nämlich die gleiche schlichte Frage gestellt, die zuvor immer so erfolglos geblieben war:
„Do you speak German or English?“ Und als sie mit
„jes“ antwortete, war eine Unterhaltung im Rahmen unserer beider Englischkenntnisse
immerhin möglich. Sie war auf dem Weg zur Schule und wohnte in dem einzigen Haus hier in der Prärie in Nähe der Bushaltestelle und lernte halt in der Schule Englisch. Es war eine vergnügliche
Unterhaltung, ich kann es nur so ausdrücken und die einzige in dieser Form mit einer Einheimischen. Aber das sollte sich ja ~ Amedeos Informationen nach ~ in Lettland und Estland mächtig ändern.
Dort spräche so gut wie jeder Englisch, „he told me“. Da bin ich ja mal gespannt. Ab morgen früh also erneut auf zu neuen
Ufern.